Aufruf von Abbé Pierre am 01. Februar 1954

Zu Hilfe meine Freunde!

Heute Nacht um drei Uhr ist auf dem Boulevard Sebastopol eine Frau gestorben, sie hatte nur ein einziges Papier bei sich, den ihr zugestellten Räumungsbefehl.

Jede Nacht kauern so wie sie über 2000 Menschen im strengen Frost auf der Straße,

ohne ein Dach über dem Kopf,

ohne ein Stück Brot.

Mehr als einer ist beinahe nackt.

Hört, was ich sage! Angesichts so grauenvoller Zustände sind nicht einmal mehr Behelfssiedlungen vordringlich.

 

Innerhalb von drei Stunden sind zwei erste Notunterkünfte geschaffen worden; diese sind bereits überfüllt.

Überall müssen neue geschaffen werden.

Noch heute müssen in allen Städten Schilder hängen mit der Überschrift:

 

NOTUNTERKUNFT FÜR UNSERE BRÜDER:

Notleidender, wer du auch seist,

tritt ein, schlaf dich aus, iss dich satt,

fass wieder Mut!

Hier wirst du geliebt.

 

Der Wetterdienst kündigt einen Monat mit strengem Frost an. Solange der Winter dauert, müssen diese Unterkünfte bestehen bleiben.

Angesichts der elend zugrunde gehenden Brüder darf es unter den Menschen nur noch einen Willen geben:

diesem unerhörten Elend auf den Straßen ein Ende zu bereiten.

 

Lieben wir einander genug, um das sofort, noch heute zu tun.

 


 

 

Aufruf vom 1. Februar 2014

Wie wäre es denn, wenn wir seit nun 60 Jahren Recht hätten?

 

Handeln, damit jeder Mensch, jede Gesellschaft, jede Nation dank des Austauschs, des Teilens, sowie der gleichberechtigten Würde leben, sich behaupten und entfalten kann“. (Aus dem universellen Manifest von Emmaüs / 1969)

 

Am Anfang des XXI. Jahrhunderts erleben wir eine politische, wirtschaftliche, soziale und ökologische Krise, die das Ende eines Systems und den Verlust der moralischen Grundwerte unserer Gesellschaft einläutet. Ihre Auswirkungen auf die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft sind unerträglich und unannehmbar.

 

Am 1. Februar 1954, als Frankreich noch mit den Folgen des Krieges zu kämpfen hatte, ertönte der Aufruf vom Abbé Pierre: „Meine Freunde, Hilfe !…“; es ging darum den Obdachlosen Schutz gegen die eisige Kälte anzubieten. Die Politik folgte ihm nicht sofort, die Bürger dagegen reagierten direkt! Dieser Aufruf des 1. Februars 1954 löste „den Aufstand der Güte“ aus.

 

Nach dem Tod des Emmaüs Gründers haben wir, die Mitwirkenden in der Emmaüs Gemeinschaft, beschlossen, den Kampf, den er sein Leben lang mit Mut und Beharrlichkeit geführt hat, weiter zu führen.

 

Wir, Gemeinschaftsmitglieder, Freunde, Ehrenamtliche, sowie Angestellte von Emmaüs teilen weiter die Entrüstung von Abbé Pierre angesichts der Ungerechtigkeit und des Elends. Nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ und mit der ständigen Frage: „Und die Anderen?“ starten wir einen neuen Aufruf. Manche mögen es als Utopie abstempeln, aber das Modell hat sich weltweit bewährt.

 

Wir von Emmaus sind davon überzeugt, dass eine lebenswerte Gesellschaft eine Gesellschaft ist, die aufnimmt und in der jeder seinen Platz findet!

 

Seit 60 Jahren nehmen wir bedingungslos jede Person, die zu uns kommt, auf. Genauso bedingungslos respektieren wir die Freiheit und die Würde des Anderen. Bei Emmaus wird der Geholfene zum Helfer. Es sind gerade die Menschen, die von der Gesellschaft abgelehnt und stigmatisiert werden, die zeigen, dass sie bereit sind, alles zu geben.

 

Seit 60 Jahren bieten wir jedem Menschen, den wir aufnehmen, eine umfassende Begleitung an (Versorgung, Unterkunft, Aktivitäten,…), damit er wieder seine Würde, seine Autonomie und sein Selbstvertrauen erlangt.

 

Seit 60 Jahren entwickeln wir wirtschaftliche und soziale Alternativen für die Ärmsten, Einsamsten, Mittellosesten dank einer reichhaltigen Tätigkeitspalette, die sich nach den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Einzelnen richtet, und nicht umgekehrt.

 

Wie wäre es, wenn wir Recht hätten, den Menschen wieder zum Mittelpunkt des Systems zu erklären?

Wie wäre es, wenn wir Recht hätten, zu sagen, dass das Elend kein unabwendbares Schicksal ist?

 

Wie wäre es, wenn wir Recht hätten, eine Gesellschaft aufbauen zu wollen, die solidarischer ist und in der die Ökonomie nur ein Mittel im Dienste des Menschlichen ist?

 

Es gibt noch viel zu tun…

 

Daher ein neuer Aufruf.

 

Je zahlreicher wir zusammen neue alternative Lösungen erfinden, desto besser werden wir nicht nur die Folgen, sondern auch die Gründe der Armut weiter zurückdrängen können.

 

Wie wäre es, wenn wir heute Recht hätten, Sie anzusprechen, damit Sie sich auch entrüsten?

 

Wie wäre es, wenn wir heute Recht hätten, Sie aufzufordern, sich zu engagieren?

 

Wir investieren alle zusammen in die Menschlichkeit. Für heute und für morgen. Entscheiden wir uns für die Solidarität, keiner will Barmherzigkeit!

 

Nur wenn wir alle zusammen weiter innovieren und handeln, machen wir es möglich, dass die Ausgrenzung zurückgeht. Nehmen wir alle zusammen diese Herausforderung an!

 

Wie wäre es, wenn wir, genau so wie vor 60 Jahren, Recht hätten, erneut auf Sie zu zählen?